
Die Kunst der Figurenentwicklung: Tipps einer Lektorin für Autor*innen
Sie sind diejenigen, die einer Geschichte erst Leben einhauchen. Diejenigen, die die Leser*innen zum Lachen, Weinen, Mitfühlen und Nachdenken bringen. Diejenigen, die jedes Gefühl und jede Emotion transportieren. Die Figuren. Manchmal sind sie Spiegelbilder unserer selbst, manchmal wie beste Freund*innen oder strenge Lehrer. Für mich als Lektorin ist es immer ein ganz besonderer Moment, wenn ich in eine Geschichte eintauche und die Figuren förmlich lebendig werden. Aber wie erschaffst du solche Figuren? Was macht sie dreidimensional und real?
In diesem Blogartikel zeige ich dir, wie du authentische Figuren mit Tiefgang erschaffst.
- Die drei Dimensionen einer Romanfigur
- Nichts aus dem Blick verlieren? Ein Charakterbogen hilft.
- Die Entwicklung deiner Romanfigur
Die drei Dimensionen einer Romanfigur
Authentische Romanfiguren sind vielschichtig, fehlerbehaftet, unperfekt. Sie haben eine Vergangenheit, ein Umfeld, Glaubenssätze und Motivationen, die ihr Verhalten, ihre Entscheidungen, ihr Äußeres und ihre Beziehungen zu anderen Figuren beeinflussen.
Damit deine Figuren wirklich authentisch wirken, solltest du jede ihrer drei Dimensionen – die körperliche, die seelische und die soziale – gut kennen. Selbst, wenn du am Ende nur einen Bruchteil dieses Wissens direkt in deiner Geschichte einbaust, macht es sich bezahlt, dass du dir das Hintergrundwissen aneignest. Denn viele Details beeinflussen deine Figuren auch indirekt. Und manchmal kann dir das Nachdenken über deine Figuren sogar neue Impulse für deinen Plot liefern. Also, schauen wir uns die drei Dimensionen mal genauer an.
1. Die körperliche Dimension
Um ein Bild im Kopf deiner Leser*innen entstehen zu lassen, ist das äußere Erscheinungsbild extrem wichtig. Dabei spielen jedoch nicht nur Punkte wie Haar- und Augenfarbe, Alter oder Größe eine Rolle. Klar, es ist wichtig zu wissen, wie deine Figur aussieht, aber versuch, das Äußere deiner Figur als etwas zu betrachten, das in Einklang mit der Persönlichkeit steht oder sogar im Kontrast dazu wirkt.
Als Beispiel einmal diese zwei Beschreibungen:
Paul war dreißig Jahre alt und eins neunzig groß. Er hatte kurzes, dunkelbraunes Haar und haselnussbraune Augen. An diesem Tag trug er ein blaues Shirt, eine graue Hose und schwere Arbeitsschuhe.
vs.
Pauls Shirt trug die Spuren des Arbeitstages – Motorenöl dort, wo er sich die Hände zwischen zwei Handgriffen saubergewischt hatte. Das dunkelbraune Haar ließ er aus demselben Grund kurzgeschnitten, seit wir uns kannten. Als er mich sah, hob er die Hand zum Gruß und kam aus der Werkstatt. Ich musste den Kopf immer ein wenig zurücklehnen, um ihm in die Augen sehen zu können. An diesem Nachmittag erinnerten sie mich an reife Haselnüsse, beinah golden im Licht des Nachmittags.
Welche der beiden Beschreibungen hat ein klareres Bild in deinem Kopf erzeugt? Von wem wüsstest du gern mehr?
Wenn du deine Figuren beschreibst, dann überlege dir, welche Dinge oder Eigenschaften bereits von außen Schlüsse auf ihr Innenleben zulassen. Was sagt die Kleidung über die Figur aus? Hat sie einen speziellen Stil? Hält sie sich gebückt oder aufrecht? Hat sie Narben? Lächelt sie oft? Sticht sie durch irgendwelche Auffälligkeiten aus der Masse?
Tipp: Schau dir echte Menschen an und überlege, wie ihr Äußeres auf dich wirkt – dann übertrage das auf deine Figur.
2. Die seelische Dimension
Die seelische Dimension umfasst das Innenleben deiner Figuren und ist der Dreh- und Angelpunkt von Geschichten. Deine Leser*innen möchten sich in deine Figuren hineinversetzen, mit ihnen mitfühlen und mitfiebern. Dazu ist es wichtig, die Beweggründe deiner Figuren nicht nur zu kennen, sondern Leser*innen auch genügend Hintergrund zu geben, damit diese sie nachvollziehen können.
Kein Mensch (und dementsprechend auch keine Romanfigur) fällt einfach so vom Himmel. Je nach Alter hat jede*r schon einen gewissen Lebensweg hinter sich, der garantiert prägend war. Wo ist die Figur aufgewachsen? In welchen Verhältnissen, Armut, Reichtum oder irgendetwas dazwischen? Wie hat die Gesellschaft und die Erziehung diese Figur geprägt? Welche Glaubenssätze und Werte hat sie im Laufe ihres Lebens verinnerlicht? Vieles davon überschneidet sich mit der sozialen Dimension, es ist jedoch ausschlaggebend dafür, wie das Innenleben deiner Figur zum Zeitpunkt der Geschichte aussieht.
Denn daraus ergeben sich die Antworten auf Fragen wie: Was treibt deine Figur an? Wovor fürchtet sie sich und welche Wünsche hat sie? Was macht sie wütend? Hat sie schlechte Angewohnheiten? Eigenschaften, die sie an sich mag und welche, die sie stören?
Figuren werden erst dann richtig spannend, wenn sie innere Konflikte haben. Vielleicht will deine Figur stark und unabhängig wirken, aber tief im Inneren hat sie Angst vor Einsamkeit. Oder sie sehnt sich nach Liebe, kann aber Nähe nicht ertragen. Diese innere Zerrissenheit macht deine Figur menschlich und nachvollziehbar.
3. Die soziale Dimension
Die dritte Dimension beinhaltet schließlich die Welt, in der sich deine Figuren bewegen. Das soziale Umfeld prägt einen Menschen enorm und hat großen Einfluss auf die anderen beiden Dimensionen. Ob deine Figur reich oder arm, privilegiert oder benachteiligt, beliebt oder ein* Außenseiter*in ist, all das beeinflusst, wie sie sich verhält und wahrgenommen wird. Welche Werte und Normen wurden ihr beigebracht? Welche Rolle spielt sie in der Gesellschaft? Zeigt sie sich vor anderen so, wie sie wirklich ist, oder spielt sie eine Rolle?
Auch die einzelnen Beziehungen und Interaktionen deiner Figuren sind hier wichtig. Jeder Mensch hat solche zwischenmenschlichen Beziehungen. Manche Menschen bedeuten einem mehr, als man in Worte fassen kann, andere würde man am liebsten in die nächste Rakete zum Mond setzen und wieder andere bringen einen immer aufs Neue zum Nachdenken. Genauso sollte es deinen Figuren auch gehen. Je größer die Vielfalt an Beziehungen zu anderen Figuren, desto spannender. Gefühle wie Misstrauen und Abneigung sind dabei genauso wichtig wie Liebe, Freundschaft oder Anziehung.
Denke zudem daran, dass Beziehungen selten konstant sind, sondern sich mit den Figuren entwickeln. Vertrauen kann gebrochen werden, Abneigung überwunden. Begegnungen mit neuen Figuren können neue Perspektiven eröffnen und die seelische Dimension deiner Figuren genauso beeinflussen wie die Entfremdung vertrauter Charaktere.
Nichts aus dem Blick verlieren? Ein Charakterbogen hilft.
In der Komplexität, die eine Romanfigur ausmacht, kann man als Autor*in schnell den Überblick verlieren. Damit das nicht passiert, hilft ein Charakterbogen. Darin findest du Fragestellungen und Aspekte aus allen drei Dimensionen, die dir helfen, deine Figuren besser kennenzulernen. Einmal ausgefüllt hilft er dir beim Schreiben, beim Überarbeiten und sogar bei der Verlagsbewerbung.
Wie du den Charakterbogen nutzt, bleibt dir überlassen: Drucke ihn aus und lege ihn dir beim Schreiben an die Seite oder fülle ihn direkt digital aus. Wenn du gern alles auf einen Blick hast, kannst du den Charakterbogen auch direkt in dein Schreibprogramm kopieren. Ich zum Beispiel lege für jede meiner Hauptfiguren eine neue Seite in Scrivener an und füge die Fragen des Charakterbogens dort ein. Manche Schreibprogramme wie z. B. Papyrus Autor bieten sogar eine eigene Charakterbogen-Vorlage an, die du nach Belieben ergänzen kannst.
An welchem Punkt deines Schreibprozesses ein Charakterbogen für dich wichtig wird, das hängt davon ab, wie du arbeitest. Wenn du plottest und bereits vor dem Schreiben deine Figuren gut kennenlernen möchtest, empfiehlt es sich, den Bogen schon vor dem ersten Entwurf auszufüllen. Wenn du allerdings lieber pantst oder nur mit einem vagen Bild arbeitest und dich überraschen lässt, würde ich den Bogen eher parallel zum Schreiben führen oder sogar erst nach dem ersten Entwurf ausfüllen.
Ein Charakterbogen hilft dir aber nicht nur bei der Planung einer neuen Geschichte, sondern kann auch während der Überarbeitung und Exposéerstellung noch hilfreich sein. Indem du ein klares Bild von deinen Figuren hast, kannst du nämlich einfacher prüfen, ob sie in deiner Geschichte authentisch handeln.
Alles ist wichtig – aber nichts auf einmal
Ganz schön viele Aspekte, die es zu beachten gibt, oder? Aber keine Panik, du musst nicht alles sofort perfekt ausarbeiten. Figuren entwickeln sich auch während des Schreibens. Manchmal entdeckst du erst während der Geschichte eine spannende Seite an deinen Figuren, die du vorher nicht auf dem Schirm hattest – und das ist völlig okay! Oft bereichert es die Geschichte sogar.
Denk einfach daran, dass deine Figuren Menschen sind (außer natürlich, du schreibst über Roboter oder Fabelwesen, aber selbst die sollten einige menschliche Züge haben). Sie sind komplex, widersprüchlich und verändern sich ständig. Und genau das macht sie spannend.
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Deinen Figuren fehlt das gewisse Etwas?
Ein frisches Paar Augen kann hier Wunder wirken. Gern gehe ich mit dir gemeinsam deine Ideen und Zielsetzungen für deine Geschichte durch und helfe dir, deinen Figuren Leben einzuhauchen. Egal, ob ein persönliches Gespräch oder ein Teillektorat zu einer besonders kniffligen Szene – erzähle mir in einer kurzen Nachricht von deinem Projekt oder nutze direkt das Anfrageformular, damit ich deine Projektanfrage noch zielgenauer bearbeiten kann. Ich freue mich, von dir zu hören!